Pfullingen
Drei Jahre lang gehörte Pfullingen zu Reutlingen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wenige Tage, nachdem Frauen erreicht hatten, dass die Stadt friedlich übergeben wurde, gemeindete die französische Militärregierung Pfullingen dem größeren Nachbarn ein. Viele Einwohner waren empört. Ihr Protest gegen den als »undemokratischen Gewaltakt« empfundenen Erlass führte 1948 zur Entscheidung des jungen Landtags, die Zwangsehe aufzuheben. Pfullingen war wieder selbstständige Stadt.
Auch in den Jahrhunderten zuvor war das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn häufig angespannt, geprägt durch Konkurrenz, manchmal auch offene Feindschaft zwischen der württembergischen Gemeinde Pfullingen und der freien Reichsstadt Reutlingen. Die Kräfteverhältnisse waren dabei nicht immer dieselben: Im Gründungszeitraum der Siedlungen war nach archäologischem Befund eher Pfullingen als Reutlingen der zentrale Ort des Echaztales. So gehörte vermutlich auch Reutlingen zur übergeordneten Verwaltungseinheit des Pfullichgaus mit dem Hauptort Pfullingen. Der Pfullichgau erscheint erstmals urkundlich im Jahr 937, dürfte aber auf merowingische Ursprünge zurückgehen.
Pfullingen war im frühen Mittelalter demnach von herausgehobener Bedeutung. Abzulesen ist dies etwa an reichen alemannischen Grabfunden aus der Merowingerzeit. Zudem fanden sich bei der archäologischen Untersuchung der Pfullinger Martinskirche im Rahmen von Sanierungsmaßnahmen in den 1960er Jahren Hinweise auf einen ersten hölzernen Vorgängerbau aus dem frühen 7. Jahrhundert, einen der ältesten Kirchenbauten im alemannischen Siedlungs- und Herrschaftsgebiet überhaupt. Der Neubau des heutigen Langhauses wurde 1580 vollendet.
Neben Kirchenareal und Marktplatz entstanden in Pfullingen im Laufe der Zeit weitere kulturelle Zentren, etwa das Klarissenkloster. Es wurde nach einer späteren chronikalischen Überlieferung im 13. Jahrhundert von zwei Frauen aus dem Pfullinger Ortsadel gegründet. Bis zu seinem Niedergang während der Reformation entwickelte es sich allen Armutsgelübden zum Trotz zu einem einflussreichen und äußerst wohlhabenden Kloster. Die letzte Pfullinger Klarisse starb 1595, sie war als einzige ihrer Schwestern zum evangelischen Glauben übergetreten. Abbrüche und Umbauten der Klostergebäude begannen bereits während der Reformation. Um 1825 fiel der Kreuzgang. Glücklicherweise erhalten geblieben ist – neben einem Rest der mit frühgotischer Ornamentmalerei geschmückten Klosterkirche – das um 1300 mit der Klostermauer erbaute Sprechgitter, für die Nonnen die einzige Verbindung nach draußen. Nur durch dieses »Redfenster« durften die Frauen, nach der Klarissenregel »für die Welt begraben« und im Alltag zum Schweigen verpflichtet, mit ihren Familien Kontakt halten: selten, zeitlich begrenzt, immer unter Aufsicht.
Auch vom früheren Zentrum der weltlichen Macht sind nur Reste geblieben. Die ehemalige Wasserburg an der Echaz, Sitz der Pfullinger Adelsfamilie Remp, wurde Ende des 15. Jahrhunderts an das Haus Württemberg verkauft. Herzog Christoph ließ in den Jahren 1560 bis 1565 anstelle der ehemaligen Rempenburg ein vierflügeliges Schloss im Renaissancestil errichten. Sein Vater Herzog Ulrich hatte 1540 bereits einen Tiergarten anlegen lassen. Von der Schlossanlage hat sich nur ein Flügel mit Anbauten erhalten. Mehr Glück hatte das »Schlössle«, ein ebenfalls auf die Rempen zurückgehender spätmittelalterlicher Fachwerkbau, der sich noch heute über der Echaz erhebt und in dem das stadtgeschichtliche Museum von Pfullingen untergebracht ist.
Ganz in der Nähe befindet sich in der Ende des 18. Jahrhunderts neu errichteten Baumannschen Getreidemühle das überregional bekannte Mühlen- und Trachtenmuseum. Die Mühle geht über vier Stockwerke und ist funktionsfähig, sie kann bei Führungen in Betrieb genommen werden. Die meisten der Pfullinger Mühlen, die entlang der Echaz und ihrer Kanäle gebaut worden waren, sind heute allerdings verschwunden, darunter auch die frühere Schlossmühle aus dem 15. Jahrhundert, die 1981 abgebrochen wurde.
Die Echaz und ihre Wasserkraft war ein wichtiger Faktor für die Industrialisierung in Pfullingen, die sich hier ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog. Die Papierfabrik der Familie Laiblin, die Nähfadenfabrik Knapp oder die Baumwollweberei Gebrüder Burkhardt sind nur drei der Unternehmen, die die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt bis ins 20. Jahrhundert prägten. So verdoppelte sich zwischen 1820 und 1900 Pfullingens Siedlungsfläche. Aber nicht nur wirtschaftlichen, auch kulturellen Zugewinn brachten die erfolgreichen Unternehmerfamilien dem Ort. Schönstes Beispiel dafür sind die mit Jugendstilelementen gestalteten Pfullinger Hallen, die Louis Laiblin 1907 seiner Heimatstadt stiftete. Seiner Zusammenarbeit mit dem Architekten Theodor Fischer verdankt Pfullingen auch sein Wahrzeichen, den markanten Schönbergturm.
Der Stadtentwicklung, dem Bau neuer Wohnquartiere und öffentlicher Gebäude, musste in den 1970er und 80er Jahren in der Pfullinger Innenstadt viel historische Bausubstanz weichen. Am Marktplatz, der bis 1979 von der Bundesstraße durchschnitten wurde und seit 1982 Fußgängerzone ist, haben sich dagegen stattliche Fachwerkhäuser erhalten, darunter zwei Rathausgebäude – Zentren einer selbstbewussten Stadt.