Eningen unter Achalm
Die waren wochen-, oft monatelang auf den Straßen unterwegs, auf dem Rücken die »Krätze« – ihre Krämerkiste, vollgepackt mit Borten, Spitzen, Kurzwaren, mit Druckerzeugnissen von der Bibel bis zum Groschenroman, mit den populären »Reutlinger Kalendern«. Zur Blütezeit des Landhandels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte der größte Teil der Eninger Bevölkerung davon, Ware unter anderem aus Reutlinger Produktion unters weit verstreute Volk zu bringen.
Reich wurde davon kaum einer. Nicht viele Eninger Händler waren wohlhabend genug, dass sie sich Fuhrwerke leisten konnten, um Ware bis nach Bayern oder in die Pfalz, in die Schweiz oder nach Lothringen zu transportieren. Die meisten waren mit einer schweren Last auf dem Rücken zu Fuß unterwegs. Einige wenige gründeten erfolgreiche Handelsgesellschaften.
Ende Juli und Ende Dezember waren alle zu Hause. Zweimal im Jahr wurden die Eninger Kongresse abgehalten, große Warenmessen, während denen das Dorf aus allen Nähten platzte. Dutzende von Gastwirtschaften machten das Geschäft des Jahres, und Eningen war für ein paar Tage der Nabel der Handelswelt. 1831 rühmte die Oberamtsbeschreibung den Ort an der Achalm als das schönste, größte und volkreichste Dorf im Königreich. Eningen hatte zu dieser Zeit rund 5000 Einwohner – mehr als die Oberamtsstadt Urach, mehr als das benachbarte Pfullingen.
Gewachsen war das große Dorf im Einflussbereich der Grafen von Achalm beziehungsweise von Urach, deren Dienstleute als Ortsadel in Eningen residierten, vermutlich in einer Burg, deren Standort im Bezirk zwischen Hirschgasse, Burg- und Bachstraße zu suchen ist. Die Achalm geriet im 14. Jahrhundert dauerhaft in die Verfügungsgewalt der Grafen von Württemberg, Eningen, zwischen Burgberg und Albtrauf gelegen, ebenfalls. Einkünfte der Eninger Kirche benutzte Eberhard im Bart, um seine neu gegründete Universität Tübingen auszustatten.
Durch die Industrialisierung wurde der Hausierhandel mehr und mehr zurückgedrängt. Der Bau der ersten Eisenbahnstrecken verlagerte den Warenstrom auf die Schiene. Die »Krätze« hatte ausgedient. Viele Hausierer wurden Fabrikarbeiter.
Um einen Anschluss ans Schienennetz haben die Eninger lange gerungen. Reutlingen bekam 1859 seinen Bahnhof, Eningen zunächst lediglich eine Haltestelle an der Echaztalstrecke, zweieinhalb Kilometer vom Dorf entfernt. Ein Eninger Eisenbahnkomitee trieb mithilfe eines Investors den Bau einer Lokalbahn in die Reutlinger Innenstadt voran: Am 1. November 1899 schnaufte der erste Schmalspur-Dampfzug zwischen den beiden Nachbarorten hin und her. Die nach den darauf transportierten Reisigbündeln »Büschelesbähnle« genannte Lokalbahn war allerdings kein uneingeschränkter Erfolg: Die Fahrkarten waren für viele der Eninger Fabrikarbeiter zu teuer, und die Reutlinger Anwohner fühlten sich vom Lärm gestört. Erst mit der Übernahme des Bähnles durch die Württembergische Eisenbahn-Gesellschaft, der Elektrifizierung und mit dem Ausbau zur Straßenbahn bekam Eningen sein Massenverkehrsmittel. Es fuhr bis 1974.